Die Gegenwart braucht Stolpersteine

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Martin Dill von der Initiative Stolpersteine Frankfurt säubert Gedenksteine. Rolf Oeser © Rolf Oeser
Martin Dill von der Initiative Stolpersteine Frankfurt säubert Gedenksteine. Rolf Oeser © Rolf Oeser

Für den Koordinator der Initiative Stolpersteine, Martin Dill, sind sie nicht nur Denkmäler der Vergangenheit.

Wer etwas dazu beitragen möchte, dass der Opfer des Nationalsozialismus in Würde gedacht wird, könnte anlässlich der sich jährenden Pogromnacht vielleicht schon vor der eigenen Haustür anfangen. Martin Dill von der Initiative Stolpersteine steht am Montag mit Putzzeug bei den Stolpersteinen der Familie Stern, die hier in der Straße Alt-Heddernheim 31 ihren letzten frei gewählten Wohnort hatte. Isidor Stern war Sohn eines Religionslehrers, Familienunternehmer und wurde im Rahmen der Novemberpogrome verhaftet und später deportiert.

Dass an ihn und sein Schicksal erinnert wird, wenn man vor dem unscheinbaren grünen Wohnhaus steht, ist der Recherchearbeit der Initiative zu verdanken. Wenn man Dill zuhört, versteht man, dass die dezentralen Mahnmale nicht nur der Erinnerung dienen, sondern auch die Gegenwart gestalten. Ihre Verlegung sei oft von Nachfahren, aber auch Anwohner:innen und Nachbarschaften initiiert, die auf Dill und seine Mitarbeitenden zukommen. Sie bitten darum herauszufinden, wer in ihrem Haus gewohnt hat.

In den Dokumenten aus Wiedergutmachungsverfahren und Archiven finden sie dann manchmal die Überlebens- und Verfolgungsgeschichte der betroffenen Person, die sie dort selbst aufgeschrieben hat, so detailreich, wie sie es nie ihrer Familie erzählen konnte. Nicht nur für die Täter, sondern auch für die Opfer sei das Erlebte oft ein Thema, über das man in der Familie nicht gesprochen habe. Diese oft unausgesprochene Traumaerfahrung übertrage sich dann auf die nachfolgenden Generationen. Daher sei die Reaktion der Nachfahr:innen oft von großer Dankbarkeit geprägt.

Auch gebe es bei ermordeten Opfern in den allermeisten Fällen keinen Ort des persönlichen Gedenkens. Dill habe schon erlebt, dass über die ganze Welt verstreute Familienangehörige bei Verlegungen zum ersten Mal zusammenkommen. Manche Angehörige seien fast überwältigt davon, dass Menschen ihre Freizeit dafür nutzen, an das Schicksal der eigenen Großeltern zu erinnern.

Neben diesem persönlichen Kontakt mit Nachfahren und Zeitzeuginnen treibe ihn noch ein anderer Aspekt an. „Wir sehen Stolpersteine nicht als Denkmäler der Vergangenheit. Das ist ein Thema für die heutige Gesellschaft und auch für die Zukunft. Jeder muss sich heute bewusst machen, wo bestimmte Haltungen, Verhaltensweisen und politische Entwicklungen hinführen können. Für mich persönlich kann ich sagen, dass in einer Gesellschaft, die es offensichtlich nötig hat, sich zu erinnern, die in Gefahr ist zu vergessen, unsere Arbeit doppelt wichtig ist.“

Sein Ehrenamt macht Dill nun seit bald fünf Jahren und tritt damit in die Fußstapfen des langjährigen Koordinators Hartmut Schmidt, der im vergangenen Jahr für sein Engagement mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet wurde.

Dill ist eigentlich studierter Geologe und Ökologe. Bevor er anfing, sich in der Initiative zu engagieren, war der 61-jährige IT-Abteilungsleiter im Tochterunternehmen eines großen Luftfrachtunternehmens.

Das zeige, so Dill, dass es in der Initiative Platz für Menschen mit unterschiedlichsten Spezialgebieten gibt. Sie interessierten sich für jüdische Stadtteilgeschichte, politischen Widerstand oder seien Historiker:innen. Früher seien Menschen vor allem generationsbedingt aktiv geworden, weil das Thema Erinnerungskultur in den 1980ern und 90ern wichtig geworden sei. Das Team in Frankfurt sei aber ein guter Mix geworden.

Auch vorbeigehende Menschen auf der Straße werden manchmal aufmerksam. Dann spricht Dill mit Menschen, die das Thema schon kennen, aber auch mit solchen, die beispielsweise nicht im deutschen Schulsystem den Nationalsozialismus behandelt haben und hier zum ersten Mal dem Thema begegnen. Die Stolpersteine können ein Anstoß sein, miteinander über das Thema ins Gespräch zu kommen.

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